Einladung zum Seminar am 5. Mai 2012. (PDF, 113 kB)
Die Dialektik von Gleichheit und Differenz
Marx sprach davon, dass die bürgerliche Gesellschaft »alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört (habe). Sie hat die buntscheckigen Feudalbande, die den Menschen an seinen natürlichen Vorgesetzten knüpften, unbarmherzig zerrissen.« Mit der kapitalistischen Moderne hielt eine große Vereinfachung Einzug. Noch einmal Marx: Es werde keine andere soziale Verbindung übrig gelassen als »das nackte Interesse, als die gefühllose bare Zahlung«.
Darauf basierend entstanden neue Spaltungen und Ungleichheiten, die oft an körperliche Merkmale gebunden wurden. Das war in der ArbeiterInnen- und sozialistischen Bewegung – bevor ihre Reduktion auf ein Arbeitskraftverkäuferkartell stattfand – so gegenwärtig, dass z. B. die SPD in ihrem Erfurter Programm von 1891 schrieb, sie kämpfe nicht nur »für die Abschaffung der Klassenherrschaft und der Klassen« und bekämpfe »nicht bloß die Ausbeutung und Unterdrückung der Lohnarbeiter«, sondern auch »für gleiche Rechte und gleiche Pflichten aller ohne Unterschied des Geschlechts und der Abstammung«. D. h. gegen »jede Art der Ausbeutung und Unterdrückung, richte sie sich gegen eine Klasse, eine Partei, ein Geschlecht oder eine Rasse.«
Wir haben also einerseits die für den Kapitalismus unvermeidliche sortierende und hierarchische Bewertung der Menschen, z. B. durch weltweit krass unterschiedliche Lohnniveaus, die profitorientierte Bewertung der Arbeitskraft als Humankapital; kranke und behinderte Menschen werden in »lebenswert« und »nicht lebenswert« eingeteilt und zu Objekten eines gesundheitsökonomischen Kalküls gemacht. Und andererseits gibt es die formale Gleichheit, die gelegentlich und/oder temporär – in Folge von sozialen Auseinandersetzungen durch soziale Gleichheitsaspekte (oder durch Antidiskriminierungsregelungen) vorübergehend »angereichert« sein kann. Dieses Verhältnis wird historisch ständig neu bestimmt.
Inklusion – ein schillernder und vielschichtiger Begriff
Den beiden Seiten dieses Prozesses – auf der einen Seite homogenisierende, die Individualität der/des EinzelneN entwertende Zwangsnormierungen, auf der anderen abwertende Verschiedenheiten und somatisierte gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse (Bourdieu) hervorzurufen – begegnen wir noch heute.
Gegenwärtig wird im Kontext der Inklusionsdiskussion »die Berücksichtigung von Vielfalt in ökonomischen Voraussetzungen, sozialer Zugehörigkeit, Ethnizität, Sprache, Religion, Geschlecht, sexueller Orientierung und Fähigkeiten« gefordert, also eine wertschätzende Semantik für das verwendet, was bisher als »anders«, »abweichend«, als defizitär definiert wurde. Zugeschriebene, stigmatisierende Merkmale (die von linker Seite aus zutreffend als z. B. Rassismus und Sexismus kritisiert wurden), werden zurzeit in vielen internationalen Dokumenten und Inklusions-Masterplänen positiv bewertet.
Emanzipation versus »Gouvernementalitätstauglichkeit«
Einerseits ist Inklusion eine Chiffre für umfassende Wertschätzung und Partizipation. Umfassende Inklusion enthält die Forderung nach Veränderung der bestehenden Institutionen gemäß der Bedürfnisse der Menschen in ihrer Vielfalt, statt – wie beim Konzept der Integration – ihre Anpassung an die bestehende homogenisierende Mehrheitskultur. Inklusion kann zu einer Neubegründung der Aufklärung auf linker sozialer Grundlage führen, zu einem humanen Menschenbild gegen die Entwertung und Kommerzialisierung des Menschen.
Andererseits wird die Berücksichtigung von Diversität, Heterogenität, Unterschiedlichkeit – insbesondere von weltmarktorientierten Großbetrieben – als moderne Wertschöpfungsmethode geschätzt und kanalisiert entwickelt. Denn die bestehende Ökonomie braucht eine immer stärkere Aktivierung der Menschen, einen gesteigerten Zugriff auf ihre subjektiven und seelischen Potentiale. Deshalb muss sie deren Einzigartigkeit stärker ausnutzen. Diversity Management versucht sie für den »Unternehmenserfolg« – d. h. für den Profit – nutzbar zu machen.
Ist Inklusion Kommunismus …
Kann der konsequente Anspruch auf egalitäre Vielfalt zur kämpferischen Befassung mit dem zerstörerischen und ausbeuterischen Charakter der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung führen? Liegt in der Diskussion um Inklusion ein emanzipatorisches Potential, das auch die Möglichkeit eröffnet, die verschiedenen gesellschaftlichen Widerspruchsachsen und Teilbereichsbewegungen zusammen zu bringen? Bringt die Diskussion um »Intersektionalität « für linke Politik eine theoretische Bereicherung und praxistaugliche Hinweise? Oder ist es nur eine schicke Neuauflage der alten »triple oppression«-Theorie, in der nicht mehr die Gesellschaftsformation oder Produktionsweise analysiert wurden, sondern alle Erscheinungsformen von Unterdrückung, Stigmatisierung und Ausbeutung in einen Topf geworfen wurden, bis alle Katzen grau waren und sich für das Verjagen des Köters Kapitalismus niemand mehr interessierte?
Ist von marxianischer, linker Seite aus bereits alles gesagt, wenn festgehalten wird, dass die Kategorien von Diversität unterschiedliche Prägetiefen haben und sich z. T. auch voneinander ableiten? Und dass insbesondere der sozioökonomische Status (im angloamerikanischen Raum »classism«) nach wie vor die entscheidende Bedeutung hat, wichtiger als z. B. Sprache oder »Machtdispositive«?
… oder ist Kommunismus Inklusion?
»Soziale Utopie ist, einen Zustand zu erreichen, in dem die Forderung nach Gleichheit überflüssig wird, weil der Mensch, der alle Möglichkeiten hat, sich in einem Gemeinwesen zu entfalten, nicht einem anderen gleich sein muss, sondern individuell so unterschiedlich sein kann, wie sie und er will.« (Jutta Ditfurth) Wie könnte ein solcher Zustand, eine dann vollständig inklusive Gesellschaft aussehen? Dazu finden wir Hinweise bei Marx: »Nachdem mit der allseitigen Entwicklung der Individuen auch ihre Produktivkräfte gewachsen und alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen, kann die Gesellschaft auf ihre Fahne schreiben: Jede nach ihren Fähigkeiten, jede nach ihren Bedürfnissen!«
Zeitplan
11.00 – 13.00 Uhr
(1) Die Entstehung des/der »AndereN« als Grundlage bürgerlicher Subjektbildung
(2) Abriss der Intersektionalitätstheorie und der linken Sortierung gesellschaftlicher Widersprüche
13.00 – 14.00 Uhr Mittagspause
14.00 – 15.30 Uhr
(3) Die Dialektik von Differenz und Homogenisierung in der Geschichte des Kapitalismus
(4) Emanzipatorischer Umgang mit Heterogenität oder Diversity Management – who wins?
15.30 – 16.00 Uhr Kaffeepause
16.00 – 16.30 Uhr
(5) Inklusion und die konkrete Utopie einer befreiten Gesellschaft
16.30 – 17.30 Uhr
– Gesamtdiskussion und theoretisch-praktische Folgerungen – für Politik und Erziehung
– Feedback und Ausblick auf Seminar Nr. 12