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Deutungspotentiale der marxianischen Theorie heute
Oder: Warum gibt es die Projektgruppe »Marxismus und Kritik der Politischen Ökonomie« Köln?
Marx-Renaissance dank Weltwirtschaftskrise?
»Marx ist tot, Jesus lebt« rief 1989 der CDU-Arbeitsminister Norbert Blüm vor den Toren der Danzinger Werft, in der Solidarnosc entstanden war und begrub einen vorschnell Totgesagten.
Im Zuge der Finanzkrise setzte eine Art Marx-Renaissance ein. Das Interesse an der Marxschen Analyse hat durch die angeschlagene Ökonomie und die globalen Krisenerscheinungen auch quantitativ messbar zugenommen: Seit 2008 ist die Auflage der drei Bände des »Kapital« beim Dietz-Verlag rasant angestiegen. 80 Prozent der BRD-Bevölkerung halten die gegenwärtige marktwirtschaftliche Wirtschaftsordnung selbst laut prokapitalistisch angelegter Umfragen für ungerecht.
Mit der an Marx angelehnten Kritik der Politischen Ökonomie[1] können die grundlegenden ökonomischen Mechanismen der Weltwirtschaftskrise erklärt werden und natürlich ist das ein Hauptgrund für seine neue Relevanz.
Es wird immer offenkundiger, dass der Kapitalismus strukturell nicht dauerhaft funktioniert und nicht für jedeN Arbeit und Einkommen bieten kann. Man kann zwar auf Eigentum spekulieren, man kann auf die Tendenzen des Marktes spekulieren, aber wir sind gerade über den Punkt hinaus, an dem deutlich geworden ist, dass die ökonomische Entwicklung nicht mehr voraussagbar ist und wohin sie führt (»Der technische Unfall ist der wirtschaftlichen Krise, die wirtschaftliche Krise ist dem technischen Unfall nicht ganz unverwandt.« Ernst Bloch, Prinzip Hoffnung, S. 811).
Es gibt eine Krise im Kapitalismus, es gibt eine Krise des Kapitalismus und es gibt eine allgemeine, darüber hinausgehende Wahrnehmung von der Krisenhaftigkeit unserer gesamten Gesellschaftsordnung – weil die Frage unbeantwortet bleibt:
Wie wollen wir künftig leben? In welcher sozialen und natürlichen Welt?
Was mit Hilfe der von Marx begründeten Methode – der materialistischen und historischen Dialektik – ebenfalls erklärt werden kann, sind die »mystifizierten« Beziehungen, die das hervorgerufen haben und die Einbildungen, die sich die Menschen darüber machen, das »notwendig falsche Bewusstsein« oder – wie Adorno es in der »Dialektik der Aufklärung« als Rückentwicklung der bürgerlichen Aufklärung in Mythologie nannte – den universalen Verblendungszusammenhang.
Marxianische Theorieströmungen – ein Kurzüberblick
Es wäre also an der Zeit, die Deutungspotentiale marxianischer[2] Theorieansätze neu kennen zu lernen und zu diskutieren.
Dabei geht es uns – der Projektgruppe »Marxismus und Kritik der Politischen Ökonomie« Köln, die sich mit dieser Aufgabe verstärkt seit 2009 befasst, in unseren Seminaren und Veranstaltungen (Themen waren u. a. Faschismusanalyse, Akkumulationsregimes, Geschichte der Klassenkämpfe, marxistische Grundbegriffe, Naturverhältnis, Dialektik, Utopien, sozialistische Ökonomiemodelle, Inklusion, Kritik des Geldfetischs und die Verschiebung der Kräfteverhältnisse zwischen den imperialistischen Zentren) nicht darum, sich einer bestimmten orthodoxen Sichtweise anzuschließen. Mensch kann Marx inzwischen offener lesen, ohne ständig den »real existierenden Sozialismus« im Hinterkopf zu haben, ohne die ganzen fraktionalisierten Interpretationen verschiedener Parteien und ohne die Kanonisierung der männlich geprägten traditionellen Arbeiterbewegung. Zudem gibt es Weiterentwicklungen der Kritik der Politischen Ökonomie, wie die Kritische Theorie oder die feministische Ökonomiekritik, die in unseren Diskussionen eine Rolle spielen sollen.
Aus der Rezeptionsgeschichte von Marx hat sich ein Bündel von Denkrichtungen entwickelt. Wir haben die Auswahl zwischen
- sozialdemokratisch-leninistischem Ökonomismus (für einige bereits bei Engels beginnend – Bernstein/Kautsky, Gramsci, Haugg, Lenin und seine Epigonen),
- dem Marxismus der so genannten räteorientierten »linken Arbeiteropposition« (Luxemburg, Lukacs, Pannekoek usw.), und dem auch daraus entstandenen
- »Operaismus« (Tronti, Negri/Hardt, Agamben, aber auch Hartmann), der die Rolle der Subjektivität stärker betont.
- Es gibt stärker akademisch-universitär kontextualisierte Theoriestränge wie
– den strukturalistischen Marxismus (Althusser, Balibar/Wallerstein, Poulantzas),
– den diskurstheoretisch beeinflussten (Chantal Mouffe, Slavoj Zizek, Alain Badiou, Ernesto Laclau) und
– die Werttheoretiker (Krisis-Gruppe, Exit/Robert Kurz), die die Denkformen unmittelbar aus der Warenlogik ableiten, das Politische eher missachten.
Aufgrund der einflussreichen sozialen Bewegungen wurde seit den 1980ern verstärkt versucht, Fragen des Naturverständnisses und der Ökologie mit einzubeziehen. Hier wäre u. a. Jutta Ditfurth zu nennen. Schlüsselsatz ist eine berühmte Passage bei Marx (MEW 23, S. 530): »Indem die kapitalistische Produktionsweise, die beiden einzigen (Spring)Quellen des Reichtums, die menschliche Arbeitskraft und die Natur für seinen Profit gnadenlos verwertet, beraubt der Kapitalismus sich tendenziell seiner eigenen Grundlage«. Diese zentrale Aussage über den unorganischen und den organischen Leib des Menschen (siehe »Grundrisse«, MEW 42) wurde von der an der Steigerung der Produktivkraft um jeden Preis orientierten ArbeiterInnenbewegung gerne unterschlagen.
Und auch der andere große »blinde Fleck« der Arbeiterbewegung, die Modernisierung des Patriarchats durch die kapitalistische Produktionsweise und durch die Lohnarbeit, wurde theoretisch im Kontext der feministischen Sicht auf die Kritik der Politischen Ökonomie aufgearbeitet, z. B. in den 1970ern/1980ern durch Rossana Rossanda und Frigga Haugg, heute durch Tove Soiland, Nancy Fraser und andere.
Gegenwärtig und international spielen die akademischen und gleichzeitig mit der politischen Praxis verbundenen Schattierungen der Regulationstheorie eine wichtige Rolle, die u. a. davon ausgeht, dass die Logik der kapitalistischen Produktionsweise ubiquitär alle gesellschaftlichen Bereiche durchzieht. Und die daher auch überall – z. B. im Stadtteil – kritisierbar und angreifbar ist. Die Regulationstheorie hat in spezifischer Weise die dogmatische Gegenüberstellung von Haupt- und Nebenwidersprüchen überwunden und taugt für die Begründung (manchmal aber auch nur zur Legitimation!) vielfältiger politischer Alltagspraxis. Hier wären zu nennen Joachim Hirsch, Elmar Altvater/Brigit Mahnkopf, David Harvey und Mike Davis. (Die männlichen Vornamen nehmen wieder zu!)
Schließen wollen wir diese kurze Genealogie durch den Hinweis auf die besonders einem antiautoritär-philosophischen Marxismus verpflichteten (sich stark auf die Frühschriften von Marx-Engels beziehenden) Bloch, Adorno/Marcuse und Dutschke/Krahl – bei denen sich unsere Projektgruppe besonders heimisch fühlt – auch wegen ihres utopischen Gehalts und des Blicks auf die Latenz eines anderen Lebens, das im unmittelbaren Alltag angelegt ist – im »Dunkel des gelebten Augenblicks« (Ernst Bloch, Prinzip Hoffnung, S. 343ff).
Oder, wie es in einer berühmten Passage der Kritischen Theorie heisst: »Im Innersten wissen alle Menschen, ob sie es sich zugestehen oder nicht: Es wäre möglich, es könnte anders sein. Sie könnten nicht nur ohne Hunger und wahrscheinlich ohne Angst leben, sondern auch als Freie leben. Gleichzeitig hat ihnen gegenüber, und zwar auf der ganzen Erde, die gesellschaftliche Apparatur sich so verhärtet, dass das, was als greifbare Möglichkeit, als die offenbare Möglichkeit der Erfüllung ihnen vor Augen steht, ihnen sich als radikal unmöglich präsentiert« (Theodor W. Adorno).
Natürlich muss mensch sich – egal welcher Strömung er/sie zugeneigt ist – davor hüten, allzu platte Analogien zu machen oder über die typischen Stolpersteine der verkürzten Kapitalismuskritik zu purzeln. Die da sind
- der Glaube, dass die Lösung in der Rückkehr zum direkten, freien Tausch liegen könne (wir werden alle wieder isolierte WarenproduzentInnen und erfinden den Markt neu – siehe die ökonomischen Vorstellungen der Piratenpartei oder von anarchistischen Kleinprojekten);
- die Unterscheidung zwischen dem destruktiven bindungslosen zinsheckenden, spekulativen Bank-Kapital und dem produktiven, Gebrauchsgüter herstellenden Kapital (wie die AnhängerInnen der »Heuschreckenkritik« von attac bis Linkspartei, aber auch der »autonomen Nationalisten« oder von Alain de Benoist);
- die personalisierte, moralisierende Kapitalismuskritik, die in der Gier der Manager, der Selbstsucht des Menschen oder in anderen esoterischen oder antisemitischen Schuldzuweisungen das Übel sieht (wie occupy oder die GesellianerInnen);
- die Gegenüberstellung des »guten« wohlfahrtstaatlichen keynesianistischen (rheinischen) mit dem »kalten« neoliberalen (US-)Kapitalismus eines Hayek (in den Gewerkschaften oder bei Grünen a la Joschka Fischer verbreitet);
- die Abwesenheit der Kategorie Geschlecht in ökonomischen Analysen und damit u. a. der unbezahlten Reproduktionsarbeit (allerorten!).
Wo stehen wir?
Wir sind heute an einem zugespitzten Zeitpunkt der menschlichen Geschichte angelangt. Die bisher höchste Produktivkraftentfaltung und die potentiell mögliche kosmopolitische Weltgesellschaft und -kommunikation fallen zusammen mit der höchsten Entwicklung von technischer Destruktivkraft und einer zugespitzten Verelendungs- und Entwertungstendenz für einen Großteil der Menschen. Klimawandel, Überschwemmungen, Artensterben, neue Krankheiten, sinkende Lebenserwartung für heutige Jugendliche; seit 2008 lebt eine Mehrheit der Menschen in Slums.
Aber es gibt Anzeichen, dass sich überall auf der Welt die Erkenntnis durchzusetzen beginnt, dass das System der Belohnungen, die der Kapitalismus anbietet – der Konsumismus und das Eigentum, die Möglichkeit für einen Teil der LohnarbeiterInnen und der Armen, andere zu beherrschen (z. B. innerhalb von patriarchalen Familien) – einfach nicht funktioniert. Entweder du kriegst die Belohnung überhaupt nicht, weil du zu wenig Geld hast oder du willst sie nicht, weil sie dich persönlich nicht oder nicht mehr befriedigt, weil sie eben nicht hinreichend ist für ein gehaltvolles und humanes Leben. Die soziale Spaltung wird immer deutlicher und immer weniger tolerierbar.
Das »working subject« ist nicht verschwunden oder in einer konstruierten Multitude aufgegangen. Die elementaren sozialen Schichtungen sind im Großen und Ganzen so geblieben, wie Marx sie beschrieben hat. Die meisten Menschen müssen ihre Arbeitskraft verkaufen, um zu überleben, und wenige verfügen über Kapital. Es gibt vielleicht ein Problem mit den Begrifflichkeiten und unterschiedlichen auf Marx referierenden Theorieansätzen, die das Problem beschreiben. Aber die Sachlage hat sich eher – auch global gesehen – zugespitzt.
Inzwischen gibt es (international) eine Generation von technisch fähigen, gebildeten jungen Menschen, die auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr gebraucht werden. Der Kapitalismus will diese Leute auch nicht mehr unterstützen, weder über den Wohlfahrtsstaat noch über die Arbeitslosenhilfe. Auch in den Ländern Nordafrikas gibt es immer mehr junge qualifizierte Menschen, die keinen Zugang zum Arbeitsmarkt haben und die gegen ihren Ausschluss protestieren. In der EU wird in verschiedenen Ländern (z Zt. etwa in Spanien oder Griechenland) versucht, die Arbeitsrechte so zu unterminieren, dass BerufseinsteigerInnen wie vogelfreie PraktikantInnen entlohnt und gefeuert werden können.
Um das heutige »working subject« zu verstehen, müssen wir zunächst unsere Definition von ArbeiterIn weiter fassen. Die klare Unterscheidung zwischen jenen, die Lohnarbeit im Sinne der unmittelbaren Beteiligung an industrieller Güterproduktion verrichten und denen, die das nicht tun, verschwimmt vielerorts.
Gender is it!
Die Unterwerfung der Welt unter die »Diktatur des Profits« (Viviane Forrester) führt dazu, dass alle Tätigkeiten und Menschen, die nicht »produktiv« sind, zurück zu stehen haben: Pflege, Erziehung, Bildung, Kultur, Umgang mit Natur, Kindern, Kranken, Alten. Die »scheinbar geschlechtsneutralen Prinzipien der Leistung, Effizienz, Risikobereitschaft, Härte, Robustheit, des Wettbewerbs, der rastlosen Aktivität (sind konnotiert) mit der männlichen Position in der klassisch-bürgerlichen Arbeitsteilung« (Helga Bilden). Für die Verwertung des »Humankapitals« wird notwendig abstrahiert vom lebendigen Menschen und gleichzeitig seine umfassende Selbstaktivierung verlangt.
In den 1950er Jahren drängten Frauen in der BRD zum ersten Mal massiver auf den Lohnarbeitsmarkt (nach der erzwungenen Ausbeutungsphase der Kriegsökonomie des deutschen NS-Faschismus), ein Prozess, der im Grunde erst heute zum Abschluss kommt, da wir international annähernd eine Balance zwischen Männern und Frauen auf dem Arbeitsmarkt erreicht haben. Als Frauen massenhaft Teile des Arbeitsmarktes wurden – über die speziellen Sektoren wie Textilproduktion usw. hinaus, in denen Frauen mit proletarischer Herkunft immer gearbeitet haben –, war weibliche Arbeit gekennzeichnet durch unsichere Bedingungen und schlechte Bezahlung. Es gab keine Arbeitsplatzsicherheit und eine geringere Bezahlung für gleiche Arbeit. Genau diese Arbeitsbedingungen sind heute allgemein durchgesetzt und haben im Grunde nichts Geschlechtsspezifisches mehr. Man könnte auch sagen: Der Kapitalismus hat gesehen, dass er die schlechte und asymmetrische Behandlung, die er Frauen zugemutet hat, genauso gut allen antun kann (Nina Power).
In den gegenwärtigen weltweiten Unmutsbekundungen sehen wir in der ersten Reihe eine hohe Präsenz oder sogar Dominanz von Frauen, die Besetzungen organisiert oder die Aktionen angeführt haben, ihnen ein Gesicht geben (siehe StudentInnenbewegung in Chile). In den meisten Medien werden diese AktivistInnen ignoriert oder es wird beständig versucht, weibliches Protestverhalten moralistisch abzuwerten oder zu naturalisieren. Es ist der endlose, immer wiederholte Versuch, weibliche politische Beteiligung zu limitieren, was im Grunde zurückgeht bis auf das Bild von der Sufragette und des Flintenweibs (auf Olympe de Gouges, Flora Tristan, Louise Michel, Alexandra Kollontai und Rosa Luxemburg), begleitet von – auch militanten – maskulinistischen Gegenreaktionen (Breivik).
Theorie- und epistemologische Bezüge
In unseren Seminaren geht es uns immer auch um die nötige Kenntnis von erkenntnistheoretischen Konzepten (u. a. Idealismus, Empirismus, Positivismus, Rationalismus) und der dialektischen Methode,
- um die Ausprägung der Fähigkeiten zum Unterscheiden von Erscheinung und Wesen,
- das Phänomen der Verdinglichung,
- die Unterscheidung von Abstraktheit und Konkretheit und
- das Verhältnis von Subjekt/Objekt
- sowie um die Fähigkeit zur Unterscheidung von mikro-, meso- und makrosoziologischer Reflexionsebene.
Marx schrieb zu seiner Erkenntnismethode in der Einleitung zur Kritik der Politischen Ökonomie (MEW 13, S. 631):
- »Vom Konkreten (Analyse des realen, chaotische unsortierte Vorstellung des Ganzen, Schein)
- zum Abstrakten (einfachste, allgemeine Begriffe)
- und wieder zurück zum Konkreten als Darstellung der Einheit des Mannigfaltigen.« (Synthese, reiche Totalität von vielen Bestimmungen und Beziehungen)
Es geht ums Ganze
Wir leben in widersprüchlichen Zeiten.
Die Welt ist einerseits geprägt durch immer stärkere soziale und regionale Spaltungen, durch Verarmung und Entwertung der Menschen. Die deutschen Verhältnisse sind besondere, weil hier die sozialen und Klassenkämpfe unterentwickelt sind bzw. durch Korruption durch Konsum gedämpft sind. Woanders sieht das anders aus (Sahara/Marokko – Kampf der Frente Polisario; Griechenland, Spanien usw.). In Deutschland geht es z. Zt. noch weniger um ein Aufstandsszenario und eher um einen Kampf um kulturelle Hegemonie und die Schaffung von politischem Bewusstsein.
Wir hoffen, dass unsere Themen und Ansätze auch einen Horizont auf politisches Handeln wie von Hannah Arendt beschrieben enthalten: »Keiner (kann) glücklich genannt werden …, der nicht an öffentlichen Angelegenheiten teilnimmt, daß niemand frei ist, der nicht aus Erfahrung weiß, was öffentliche Freiheit ist, und daß niemand frei oder glücklich ist, der keine Macht hat, nämlich keinen Anteil an öffentlicher Macht« (Hannah Arendt, Über die Revolution, S. 326f).
Und um mit einem Zitat über das mögliche Fernziel der Kritik der Politischen Ökonomie zu enden: »Der Mensch lebt noch überall in der Vorgeschichte, ja alles und jedes steht noch vor Erschaffung der Welt, als einer rechten. Die wirkliche Genesis ist nicht am Anfang, sondern am Ende, und sie beginnt erst anzufangen, wenn Gesellschaft und Dasein radikal werden, das heißt sich an der Wurzel fassen. Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfaßt und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.« (Ernst Bloch, Prinzip Hoffnung, S. 1628)
[1] Sie ist – von Marx neu formuliert – die Wissenschaft von der Entwicklung der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse und der Gesetzmäßigkeiten, denen die Herstellung und die Verteilung der materiellen Güter in der menschlichen Gesellschaft auf ihren je unterschiedlichen historischen Entwicklungsstufen unterworfen sind.
In den ersten Kapiteln der »Deutschen Ideologie« (MEW 3, S. 20 bis 77) beschreiben Marx/Engels die Produktion materieller Güter als die naturnotwendige Grundlage des Lebens der Menschheit seit ihrer Morgenröte in der Wildheit, der Barbarei, der Urgesellschaft (»Die erste Voraussetzung aller Menschengeschichte ist natürlich die Existenz lebendiger menschlicher Individuen. Der erste zu konstatierende Tatbestand ist also die körperliche Organisation dieser Individuen und ihr dadurch gegebenes Verhältnis zur übrigen Natur. … Alle Geschichtschreibung muß von diesen natürlichen Grundlagen und ihrer Modifikation im Lauf der Geschichte durch die Aktion der Menschen ausgehen. … Man kann die Menschen durch das Bewußtsein, durch die Religion, durch was man sonst will, von den Tieren unterscheiden. Sie selbst fangen an, sich von den Tieren zu unterscheiden, sobald sie anfangen, ihre Lebensmittel zu produzieren, ein Schritt, der durch ihre körperliche Organisation bedingt ist. Indem die Menschen ihre Lebensmittel produzieren, produzieren sie indirekt ihr materielles Leben selbst.« A.a.O. S. 20/21). Die dazu nötige menschliche Fähigkeit ist die, planvoll und kooperativ Arbeit zu verrichten, BaumeisterIn zu sein, statt Biene (»Was aber von vornherein den schlechtesten Baumeister vor der besten Biene auszeichnet, ist, dass er die Zelle in seinem Kopf gebaut hat, bevor er sie in Wachs baut.« MEW 23, S. 193)
Neben einigen allgemeinen Voraussetzungen, die für jedes Produzieren in allen Gesellschaftsformen gelten (z. B. die menschliche Fähigkeit, mehr Lebensmittel – ein Mehrprodukt – herstellen zu können, als für die unmittelbare Reproduktion nötig ist; die Fähigkeit, kooperativ zu arbeiten usw.), gibt es besondere Gesetze, die nur innerhalb einer bestimmten historischen Produktionsweise gelten. Produktionsweisen können sich unterscheiden durch
(a) den Entwicklungsstand der Produktivkräfte (die menschliche Qualifikation, die Arbeitsgegenstände und Arbeitsmittel [Werkzeuge], die Produktionsverfahren) und
(b) die Produktionsverhältnisse, das sind die gesellschaftlichen Beziehungen und Verhältnisse, unter denen die gesellschaftliche Arbeit stattfindet – vulgo: Die Eigentumsverhältnisse und die Verfügungsgewalt über (a).
Die Produktionsverhältnisse bestimmen über die Art und Form der Verteilung (Distribution) der produzierten Güter. Die Produktionsweisen entwickeln sich und werden umgewälzt, indem die Produktionsverhältnisse an die Entwicklung der Produktivkräfte angepasst werden müssen. So wurde z. B. die im Feudalismus keimende kapitalistische Produktionsweise durch den merkantilistischen und absolutistischen Staat unterstützt. Der Staat und politische Institutionen sind die Katalysatoren und Organisatoren, die einem historischen Wechsel unterworfen sind. Der Wechsel findet nicht statt aufgrund von ehernen ökonomischen Gesetzen, sondern wird durch soziale Kämpfe beschleunigt und beeinflusst.
[2] wie es im angloamerikanischen Sprachraum in Abgrenzung von dogmatischen Interpretationen heißt